AOK Pflegereport 2023 weist auf hohe Verordnungsdosen von Neuroleptika (Antipsychotika) in Stuttgarter Pflegeheimen hin
Bei Bewohnern in Stuttgarter Pflegeeinrichtungen zeigen die Vergleichsdaten der Landkreise im Bundesgebiet, dass demenzkranke Bewohner mehr Dauermedikationen mit Antipsychotika (frühere Bezeichnung = Neuroleptika wie Risperidon, Quetiapin, Melperon, …) erhalten (12,3 % zu 9,6 % im Bundesschnitt). Baden-Württemberg ist insgesamt diesbezüglich Spitzenreiter.
Von vornherein sind höhere Dosierungen nicht zwingend negativ zu bewerten, wenn sie fachgerecht verordnet sind und die Lebensqualität der Menschen verbessern. Hohe Dauer-Dosierungen weisen jedoch nicht selten darauf hin, dass Absetzversuche der Medikamente vergessen oder aufgrund fehlender Fachkenntnis der Ärzte nicht versucht wurden. Damit besteht das Risiko, dass Menschen dauerhaft zu stark sediert werden und unter möglichen Nebenwirkungen der Medikamente leiden. Der Indikator ist daher eine mögliche Problemanzeige. In Stuttgart sind auch die Verordnungen bei Beruhigungs- und Schlafmitteln etwas höher als im Bundesschnitt. Ebenso kommen sturzbedingte Krankenhausaufenthalte hier etwas häufiger vor (17,4 gegenüber 16,2 % im Bundesschnitt). Weniger häufig als im Bundesschnitt werden in Stuttgart Kombinationen von neun oder mehr Wirkstoffen verordnet (Polymedikation). Positiv ist in Stuttgart auch, dass für ältere Menschen ungeeignete Wirkstoffe hier etwas seltener verordnet werden. Ansonsten bewegen sich die gemessenen Qualitäts- und Risikoindikatoren auf Basis der Routinedaten der Kassen in Höhe des Bundesdurchschnitts. Dies betrifft z.B. Indikatoren zu Dehydration und Dekubitus sowie zu vermeidbaren Krankenhausaufenthalten.
Die regionalen Auswertungs-Daten können auf folgendem Portal betrachtet werden: https://qualitaetsatlas-pflege.de/ . Die Studie mit Statements der Autoren und Herausgeber wird hier beschrieben: https://www.aok.de/pp/bv/pm/pflege-report-2023/. Eine interessante Präsentation der Studienleiterin mit wichtigen Grafiken zur Auswertung ist hier zu finden: Folien_Schwinger.pdf . Die Studie steht im Gesamttext beim WIdO-Institut hier zum Download bereit https://www.wido.de/ ... .
Erläuterungen zum Messwert der Antipsychotika Dauerverordnung: Grundlage der Auswertung in der Studie sind die verordneten und abgerechneten Wirkstoffmengen in Quartalen je Bewohner mit einer Demenzdiagnose (Diagnose laut Kassendaten). Von einer Dauermedikation wird bei der Auswertung ausgegangen, wenn über 2 Quartale hinweg je Quartal mindestens 30 DDD an Antipsychotika (defined daily dose = mittlere angenommene oder übliche Tagesdosis) verordnet wurden. 30 DDD über 6 Monate stellen nach Expertenbewertungen einen guten Einschätzungswert dar, um eine Dauermedikation anzunehmen (da bei Demenzkranken in der Regel niedrigere Tages-Dosierungen verordnet werden, ist die Grenze niedriger angesetzt als beim üblichen Standard).
In einem anderen WIdO Bericht (Qualitätsmessung in der Pflege mit Routinedaten) werden ergänzend zur obigen Auswertung Zusammenhänge aufgezeigt zwischen hoher Antipsychotika-Dauermedikation und anderen Faktoren. So treten offenbar Dauerverordnungen mit Antipsychotika in Pflegeheimen häufiger auf, in denen mehr Hausärzte als Fachärzte eingebunden sind. Bei diesen können Kenntnisse über eine fachlich angemessene Behandlung weniger bekannt sein. Aufgrund von Befragungen konnte zudem festgestellt werden, dass auch von Pflegekräften Neuroleptika-Verordnungen oft eingefordert werden. Entscheidend ist in dem Zusammenhang vor allem eine unreflektierte nicht fachgerechte Dauerverordnung.
Erläuterungen zur Wirkung von Antipsychotika: Atypische und hochpotente Neuroleptika (Risperidon, Quetiapin, Haloperidol) werden vor allem bei hoher Reizbarkeit, Anspannung, Neigung zu sehr abwehrendem oder aggressivem Verhalten, starken Ängsten oder wirklichkeitsfremden ängstigenden Vorstellungen verordnet. Niedrigpotente Neuroleptika (Melperon, Pipamperon) eher bei Unruhe oder Schlafproblemen. Im Unterschied zu Beruhigungs- und Schlafmitteln (Benzodiazepinen) führen Neuroleptika nicht zu einer Gewöhnung an den Wirkstoff und begünstigen keine Abhängigkeit. Neuroleptika sollen aber nach den Leitlinien (S3-Leitlinien zur Behandlung von Demenzerkrankungen) nur für begrenzte möglichst kurze Zeit (z.B. Wochen oder wenige Monate) eingesetzt werden und dann reduziert oder abgesetzt werden, wenn möglich. Nicht selten treten die Symptome nach dem Absetzen nicht mehr auf. Bei dauerhaft hoher Dosierung, die individuell und je nach Alter unterschiedlich einzuordnen ist, können Neuroleptika Demenzsymptome steigern, Apathie und Inaktivität fördern und andere Nebenwirkungen haben. Sie können auch das Schlaganfallrisiko erhöhen.